Als wir neben Lorenzo in seinem Eisbomber Platz genommen hatten, legte ich eine Hand auf das Lenkrad und bat Renee, die zwischen uns saß:
»Frag ihn, ob er weiß, wo die Villa Fanulla ist.« Als er den Namen hörte, leuchteten seine Augen auf.
»Fanulla? Si, si, certo, certamente!«, rief er, legte einen Gang ein, kurbelte an seinem Lenkrad und fuhr los, ohne zu blinken. Nach den ersten paar hundert Metern wünschte ich, wir hätten den Bus genommen.
Renee dagegen war begeistert von Lorenzos Fahrstil, der darauf beruhte, den kürzesten Weg durch die Kurven zu nehmen, im Vertrauen darauf, dass der Gegenverkehr rechtzeitig auf die andere Fahrbahn ausweichen würde. Sein Vertrauen schien unbegrenzt.
Andererseits hatte ich keinerlei Schrammen an seinem rasenden Regenbogen gesehen. Wahrscheinlich war er auf der ganzen Insel genauso bekannt, wie meine Villa.
»Was willst du in deiner Villa?«, fragte Renee.
»Es ist nicht meine Villa, das weißt du doch.« Lorenzo spitzte die Ohren, ohne ein Wort zu verstehen.
»Ok ok, dann eben: Was willst du in der Villa die nicht deine Villa ist?«
»Wir brauchen einen neuen Rucksack für dich, Sachen zum Anziehen, wir brauchen Tickets, wir brauchen Essen und — «, ich deutete auf ihren kahlen Kopf, »wir brauchen Medizin.«
»Das hast du alles da?«
»Nein.«
»But?«
»Geld.« Sie sah mich mit großen Augen an. Und dann erklärte ich ihr, was es mit Salvatores Umschlag auf sich hatte.
»Good lord!« Sie pfiff durch die Zähne. »Und wieviel ist es?« Lorenzo nahm eine linke Haarnadelkurve wie ein Formel-1-Pilot, so dass sein Bully mit zwei Rädern kurzzeitig auf Bodenkontakt verzichtete. Renee und ich wurden an die Beifahrertür gequetscht, während unser Fahrer begeistert mit der Zunge schnalzte. Als ich wieder Luft bekam, sagte ich ihr die Zahl ins Ohr.
»Und das wolltest du ihm geben back?«
»Es zu behalten wäre nicht in Ordnung gewesen. Für mich zumindest.«
»Aber jetzt ist Salvatore tot?« Ich nickte. Lorenzo hörte den Namen und nickte auch, bevor er runterschaltete, um einen Lieferwagen zu überholen.
»Si, si, Salvatore è morto. War eine Straße mit vielen Kurven, wie diese hier. War eine Kurve zu viel.« Renee übersetzte mir sein Englisch und ich suchte etwas zum Festklammern, fand aber nichts.
»Rocca wird vielleicht schon dort sein.« Damit sprach Renee meine größte Befürchtung aus.
»Wir müssen eben sehr vorsichtig sein.« Der Capitano würde die Liste meiner Vergehen um »unverschämten Einbruch« ergänzen müssen.
»Und wie bist du gekommen auf diese Villa?«, wollte Renee wissen. So knapp wie möglich erzählte ich ihr die Geschichte, wie ich an Hans »Poirot« Müllers Auftrag gekommen war.
»So du bist ein, wie sagt man, Aufstapler?«
»Könnte man so sagen. Das gefällt mir jedenfalls besser, als Hochstapler.«
Dank Lorenzos Fahrkünsten waren wir schneller als erwartet am Ziel. Wir vereinbarten, dass er etwas entfernt an einer Ausweichstelle der Straße auf uns warten sollte.
Wir schlichen auf demselben Weg an das Grundstück heran, den ich am Morgen mit dem Traktor genommen hatte. Die Olivenbäume warfen lange Schatten. Wir nutzten sie als Deckung und liefen tief gebückt kreuz und quer durch den Garten, bis wir kurz vor der Terrasse waren.
Schweratmend warteten wir eine Minute und beobachteten die Fenster aus unserem Versteck.
Bei meiner Entführung durch Rocca und Dellagrande war ich so kopflos gewesen, dass ich vergessen hatte, abzuschließen. Die Terrassentür war nur angelehnt. Alles wirkte verlassen. Es war unmöglich, zu erkennen, ob im Innern schon jemand auf uns lauerte.
Mir kamen Zweifel, ob wir es wirklich riskieren sollten. Ich warf Renee einen Blick zu. Sie hatte eine solche Energie in ihren Augen, dass meine Zweifel sich in den grünstichigen Teich zu den Fröschen gesellten, wo sie leise vor sich hin quakten.
Wir nickten uns zu und liefen gleichzeitig los. Ich öffnete behutsam die Terrassentür und lugte mit klopfendem Herzen in das Wohnzimmer. Renee stand dicht hinter mir.
Während ich nach dem Umschlag suchte, sollte sie ihre Augen und Ohren überall haben, so hatten wir es besprochen. Wenn alles gutging, wollte ich außerdem auch meinen Koffer ergattern. Bei der Vorstellung, die Treppe hochzuschleichen, während Capitano Rocca hinter einer Tür die Luft anhielt, bekamen meine Nerven Schüttelfrost.
Auf den ersten Blick wirkten die Büchertürme unverändert. Ich schnupperte, ob nicht etwa der Hauch eines fremden Rasierwassers in der Luft lag. Doch das Hausaroma war unverkennbar noch dasselbe. Ich machte auf Zehenspitzen ein paar Schritte und Renee huschte hinter mir ins Innere.
Den richtigen Stapel hatte ich rasch gefunden und begann, ihn hastig abzubauen, während Renee einen Blick in die Küche und das Schreibmaschinenzimmer warf.
Sie stand am Fuß der Treppe, als ich mich bis zu den Merian-Heften vorgearbeitet hatte. Triumphierend hielt ich den Umschlag hoch. Renee entfuhr ein leises »Yeah«. So weit so gut.
Ich schlich zu ihr und blickte die Treppe hoch. Eines meiner Knie war fest, das andere butterweich.
Ich sah Renee an, sie zuckte mit den Schultern. Ich riss mich zusammen und nahm die ersten Stufen.
Da hörten wir es. Ein kurzes Knacken nur, eine Holzdiele im oberen Stock. Ich blieb stehen wie gelähmt. Da war jemand. Atemlos lauschten wir. Und atemlos wurden wir belauscht, dessen war ich mir sicher.
Renee starrte mich an. Ich legte unnötigerweise den Zeigefinger auf die Lippen und gab ihr mit dem Kopf ein Zeichen. Sie nickte und schlängelte sich rasch an den Bücherstapeln vorbei durch das Wohnzimmer.
Ich folgte ihr, ohne mich umzudrehen. Panik saß mir wie eine Fledermaus im Genick. Wenn es zu einem Wettrennen kommen sollte, hatte ich keine Chance. Mit sechsundsechzig Jahren war ich gut im Wandern, nicht im Sprint. Und da mein Einbruch in eine fremde Villa zu dem Bild passte, das Capitano Rocca von mir hatte, dürfte ich garantiert in einer seiner Zellen probewohnen.
Renee war schon auf der Terrasse. Waren da hinter mir Schritte auf der Treppe oder bildete ich mir das nur ein? Ich durchquerte wie ein Slalomläufer hastig das Wohnzimmer, blieb mit dem Knie an einem der Türme hängen, versuchte, ihn am Einsturz zu hindern, wozu ich beide Hände brauchte, so dass mir Salvatores Umschlag entglitt und auf den Boden flatterte. Die Schritte auf der Treppe waren schwer und keine Einbildung. Renee hatte alles mitbekommen, sprang ins Wohnzimmer zurück, grapschte nach dem Umschlag und packte mich am Ellbogen.
Wir flitzten durch die Terrassentür in den Garten. An Versteckspielen war nicht zu denken. Irgendjemand brüllte uns etwas hinterher. Es klang italienisch und es klang nach einem Befehl.
Wir hasteten durch das struppige Gras zwischen den Olivenbäumen hindurch und an dem Schuppen vorbei. Aus dem Augenwinkel registrierte ich dort eine rasche Bewegung. Noch ein Verfolger?
Ich rannte was meine Beine und Lungen hergaben. Renee hatte schon mindestens zehn Meter Vorsprung und wetzte, Staub aufwirbelnd, quer über den Acker.
Ich bekam keine Luft, mein Puls raste, mein Kopf dröhnte, während ich vorwärtstorkelte. In diesem Moment war ich kurz davor, aufzugeben. Einfach stehen zu bleiben und alles über mich ergehen zu lassen.
Ich kniff die Augen zusammen, von Seitenstechen gepeinigt. Lorenzos Gesicht kam mir in den Sinn, sein Lächeln, als er in seinem Regenbogenbully zurückblieb.
Von ganz hinten in meinem Kopf drängelte sich Capitano Roccas Fratze in den Vordergrund.
Ich stellte mir sein hämisches Grinsen vor, wenn ich ihm in die Hände fiel. Diese selbstgerechte Genugtuung in seinen kleinen Augen.
Ein elektrischer Schlag fuhr durch meinen Körper, als hätte mich ein Blitz getroffen. Adrenalin brodelte, ich schnaubte vor Wut und Energie. Möglicherweise kam Rauch aus meinen Ohren, ich kann es nicht beschwören.
»Nicht mit mir!!!« Dieser Gedanke trat mir mehrmals in den Hintern. Meine Beine liefen wie von selbst immer schneller und schneller.
Marathonläufer berichten manchmal von der »zweiten Luft«, die sie kurz vor dem Aufgeben überrascht und stattdessen das Tempo beschleunigen lässt. Ludwig Vonwegen braucht dazu keinen Marathon, ein paar hundert Meter genügen.
Renee war hinter ein paar Bäumen außer Sichtweite. Sicher hatte sie Lorenzo schon erreicht. Ich hörte einen Motor aufjaulen. Ein alter Motor in meinen Ohren.
Fuhren die etwa ohne mich los? Ich stieß einen Schrei aus. Gleich darauf sah ich Renee. Sie wedelte wild mit ihren Armen in der Luft herum.
»Hurry up, Lou! Come on!« Für einen Moment sah ich sie doppelt. Die letzten Meter muss ich wie in Trance gerannt sein. Bis heute ist mir schleierhaft, wie ich es bis zu Lorenzos Bully geschafft habe, ohne zusammenzubrechen.
Ich weiß noch, dass Lorenzo wieder und wieder den Motor aufheulen ließ, wahrscheinlich, um mich anzufeuern. Ich sehe Renee vor mir mit ihren weit aufgerissenen Augen. Und dann weiß ich nur noch, dass wir schweratmend nebeneinandersaßen, während Lorenzo die Reifen quietschen ließ.
Ende der Leseprobe